Hilfe zur Selbsthilfe: Hochschulangebote zur psychischen Gesundheitsvorsorge brauchen ein gutes Marketing

Ein Studium geht oft mit Herausforderungen einher. Niedrigschwellige Services an Hochschulen können das psychische Wohlbefinden Studierender unterstützen und zu einem erfolgreichen Studienabschluss beitragen.

Autorin: Gunda Achterhold (November 2021)

Foto von einem Studenten und einer Studentin bei Meditationsübung im Hörsaal
© Irrsinnig Menschlich e. V.

Das Studium ist eine Zeit des Aufbruchs – und zugleich des Umbruchs. Gerade zu Studienbeginn machen junge Menschen viele neue Erfahrungen, in dieser Phase werden sie jedoch auch mit großen Herausforderungen konfrontiert. Eine Studie der American College Health Association zeigte 2019, dass sich im Vorjahr 87 Prozent der Studierenden von ihren Aufgaben völlig überfordert gefühlt hatten. Die Gründe dafür sind überall auf der Welt ähnlich: Hoher Zeit- und Leistungsdruck, die Angst, in der neuen Umgebung keinen Anschluss zu finden, Prüfungsstress oder mit jedem weiteren Semester die zunehmende Sorge um einen Arbeitsplatz. Das kann zu Panikattacken oder Depressionen führen, im schlimmsten Fall zu lebensgefährdenden Krisen.

Die Corona-Pandemie hat die psychischen Probleme Studierender noch verschärft und stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Studien wie der Barmer Arztreport zeigen seit Jahren, dass Studierende immer häufiger gefährdet sind, psychisch zu erkranken. Internationale Studierende sind fernab der Heimat zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Sprachliche und bürokratische Hürden, Probleme mit der Studienfinanzierung oder bei der Wohnungssuche verursachen Stress. Auch eine soziale Isolation kann als belastender Faktor hinzukommen. Zu diesem Ergebnis kommt das Forschungsprojekt SeSaBa, das Problemlagen und Herausforderungen internationaler Studierender in Deutschland und deren Auswirkung auf den Studienerfolg untersucht.

Professionelle Unterstützung wird häufig erst spät gesucht

"Der Leidensdruck ist bei internationalen Studierenden sehr groß", sagt Katharina Böcker, psychologische Beraterin im Studentenwerk Schleswig-Holstein. Ihr Team betreut alle Hochschulen in Kiel. "Es spielen viele Faktoren zusammen." Eine fremde Kultur, zum ersten Mal von der Familie getrennt im Ausland, ein ganz anderes Bildungssystem und in der Pandemie auch verstärkt die Sorge um die Familie: "Seit Corona spitzen sich depressive Symptome zu", beobachtet Böcker. "Die Herausforderungen, die mit dieser schwierigen Situation einhergehen, binden alle Ressourcen – für anderes, wie etwa das Studium, bleibt dann keine Energie mehr." Hinzu komme, dass wichtige Menschen aus dem persönlichen Umfeld selbst so belastet seien, dass sie als Unterstützung nicht mehr zur Verfügung stehen. "Den Weg zu uns finden Betroffene aber oft erst, wenn sie sich nicht mehr auf das Lernen konzentrieren können."

Das Team arbeitet eng mit der psychosozialen Beratung im Studentenwerk zusammen, in der es vor allem um die Wohnsituation, finanzielle Angelegenheiten oder Probleme mit Behörden geht. "Wir sind eine gute erste Anlaufstelle, weil wir erst einmal sortieren: Wer braucht tatsächlich psychologische Hilfe, für wen reicht eine Kurzzeitberatung, wer müsste durchgehend gesehen werden, wer braucht externe Hilfe." Die Weiterversorgung internationaler Studierender, die eine englischsprachige psychologische Unterstützung brauchen, sei sehr schwierig. Auch, weil teilweise keine Kostenübernahme durch die Krankenversicherung ermöglicht werden kann. Wichtig sei daher die Vernetzung und der Austausch mit anderen Akteuren. Regelmäßig tagt ein internationaler Runder Tisch, an dem Vertreter und Vertreterinnen aus der Politik, den Religionsgemeinschaften oder die Studierendenvertretungen der Hochschulen ebenso teilnehmen wie Kolleginnen und Kollegen aus der Verwaltung, den International Offices und Lehrende aus den Sprachkursen. "Auch die Wohnheimtutorinnen und -tutoren sind für uns wichtige Ansprechpartner", stellt Psychologin Katharina Böcker immer wieder fest. "Sie haben einen Vertrauensvorschuss und wissen genau, was in ihren Häusern los ist."

In Online-Foren redet es sich leichter

Die sehr hohe Nachfrage nach psychologischer Beratung führt oft zu langen Wartezeiten. Umso wichtiger sind niedrigschwellige Angebote direkt an den Hochschulen, die Studierende wie Mitarbeitende für Warnsignale sensibilisieren und Bewältigungsstrategien aufzeigen. "Internationalen Studierenden fällt es besonders schwer, sich Hilfe zu holen", sagt Norbert Göller, Mitgründer und Geschäftsfeldentwickler des Vereins Irrsinnig Menschlich e.V. in Leipzig. Seit 20 Jahren entwickelt der Verein Programme zur Vermeidung psychischer Krisen und zur Förderung psychischer Gesundheit im Bildungsbereich. "Für Internationals ist die Hürde doppelt so groß, auch aus Angst vor Stigmatisierung. Viele befürchten, wieder zurückgeschickt zu werden, wenn sie den Anforderungen des Studiums nicht gewachsen sind." Bundesweit arbeitet der Verein mit mehr als 50 Hochschulen zusammen. 2016 als Hörsaalforum für Studierende gestartet, richtet sich das Programm Psychisch fit studieren seit Corona als interaktives Online-Forum an Studierende und regt den Austausch über das für viele schwierige Thema psychische Gesundheit an. Die englischsprachigen Angebote werden gezielt auf die Bedürfnisse internationaler Studierender zugeschnitten.

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Über das Programm "Psychisch fit studieren" des Vereins Irrsinnig Menschlich e. V. können Hochschulen Online-Foren als Präventionsangebot durchführen.

Die zweistündigen Foren werden von einem zweiköpfigen Referententeam geleitet. Neben Fakten zu psychischen Erkrankungen erhalten die Studierenden auch konkrete Tipps zu Warnsignalen und Bewältigungsstrategien. In den internationalen Foren werden weiterführende englischsprachige Ressourcen wie Websites oder Broschüren genannt. "Viele Hochschulen haben in diesem Rahmen erstmals die Möglichkeit, sich mit ihren psychosozialen Beratungsangeboten vorzustellen", sagt Programmleiterin Juliane Hug. "Studierende wissen oft gar nichts davon und nutzen es kaum." Im Moderationstandem ist jeweils auch eine Expertin oder ein Experte vertreten, die von eigenen Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen im Studium berichten. Gerade dieser persönliche Ansatz macht es für viele so authentisch und regt zu einem offenen Austausch an. Dabei profitiere das Online-Format vom Schutz der Anonymität, beobachtet Juliane Hug. "Es fällt vielen leichter, sich frei zu äußern." Auch die Reichweite hat sich mit der pandemiebedingten Umstellung deutlich erhöht. Studierende höherer Semester und Promovierende sind seitdem häufiger in den Foren vertreten. "Zu Semesterbeginn platzieren wir das Thema vor allem präventiv, und statten die Erstsemester mit Werkzeugen aus, bevor es schwierig wird", so Hug. Doch nicht nur der Studienstart sei mit Herausforderungen verbunden, stellt die Programmleiterin fest. Je länger ein Studium dauert, desto größer werden offenbar die Probleme. "Studierende niederer Semester schätzen ihre subjektive Gesundheit signifikant besser ein als höhere Semester und Langzeitstudierende."

Begleitung über alle Studienphasen hinweg

Ein Angebot, das Vorbildcharakter für andere Hochschulen haben könnte, erarbeitete das im Rahmen einer internationalen Forschungsinitiative initiierte Projekt StudiCare. Expertinnen und Experten auf dem Gebiet der Psychotherapieforschung und dem Bereich E-Mental-Health bündeln in der Kooperation ihr Fachwissen und ihre Erfahrung. Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und die Universität Ulm entwickelten im Rahmen des Anfang 2021 abgeschlossenen Projekts online-basierte Trainings zu verschiedenen Themen wie Achtsamkeit, sozialen Ängsten oder Prokrastination. Aktuell werden die Ergebnisse mehrerer Studien zur Evaluation dieser Trainings hinsichtlich Wirksamkeit, Akzeptanz und Kosteneffizienz ausgewertet. Langfristiges Ziel des Projekts ist der Aufbau einer evidenzbasierten Informations- und Interventionsplattform zur Förderung der mentalen Gesundheit Studierender, die Hochschulen in ganz Deutschland nutzen können.

"Wir stellen fest, dass die Trainings teilnehmenden Studierenden dabei helfen, Symptome zu reduzieren und sich wohler zu fühlen", berichtet Ann-Marie Küchler, Studienkoordinatorin an der Universität Ulm. Auch drei bis sechs Monate nach Abschluss der sogenannten Interventionen waren positive Effekte noch zu messen und wirkten sich auch auf die akademische Leistungsfähigkeit förderlich aus. In den meist sechs- bis achtwöchigen Online-Trainings lernten Teilnehmende, besser mit Stress umzugehen, Ängste zu reduzieren und ihre Widerstandsfähigkeit zu steigern. "Die Interventionen sind modular aufgebaut, sodass jeder in seinem eigenen Tempo arbeiten kann", so Küchler. Begleitende Apps beispielsweise mit Tagebuchfunktion bieten zusätzliche Möglichkeiten. Je nach Modell wurden die Studierenden auch durch einen eCoach unterstützt, den sie über die Nachrichtenfunktion ansprechen konnten.

Im Marketing auf ein zielgruppengerechtes Wording setzen

Für internationale Studierende wurden im Rahmen von StudiCare zwei verschiedene englischsprachige Trainings entwickelt und evaluiert. Hinzu kommt eine deutsch-türkische Variante als Ergebnis einer Pilotstudie mit 58 Studierenden. Die Intervention "StudiCare Achtsamkeit" wurde an den türkischen Kulturraum angepasst, etwa bezüglich Sprache, Redewendungen oder Metaphern. Beispielcharaktere wurden verändert, diversifiziert und ihre Probleme der Erlebniswelt türkischer Studierender angeglichen. Daten wurden hauptsächlich an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul, aber auch an einigen anderen Hochschulen in Istanbul gesammelt.

Facebook-Post der Technischen Hochschule Köln zum Online-Forum "Psychisch fit studieren"
© TH Köln

Internationale Studierende von Anfang an mitdenken: Die TH Köln bietet das Forum "Psychisch fit studieren" auch auf Englisch an.

StudiCare versteht sich als Hilfe zur Selbsthilfe, Studierende lernen Strategien, die sie in schwierigen Situationen selbst anwenden können. "Man muss Studierenden das Gefühl geben, dass sie ihre Probleme lösen können", betont Studienkoordinatorin Küchler. Darin sieht sie auch eine wichtige Aufgabe des Marketings. "Man muss das Thema richtig framen, wenn man es bei den Studierenden und auch bei den Angestellten präsent machen will." Wohlbefinden, Stressmanagement – Begriffe wie diese kommen ihrer Erfahrung nach gut an. "Es sollte das Gefühl vermittelt werden, dass man mit den Angeboten etwas für sich tun kann und nicht, dass man krank ist." 

Psychische Krisen können jeden treffen

An der Technischen Hochschule Köln wird das Thema psychische Gesundheit von der Beauftragten für Studierende mit Beeinträchtigungen an der Zentralen Studienberatung, Nadine Fischer, sehr engagiert vorangetrieben. Ihr Team arbeitet dabei eng mit dem Referat für Internationale Angelegenheiten zusammen. "Wir bewerben alle Maßnahmen und Angebote auf unseren digitalen Kanälen und binden auch Studienbewerber und -bewerberinnen aus dem Ausland von Anfang an ein, um die breite Masse zu erreichen", sagt Mitarbeiterin Elin Petersson aus dem Team International Degree-Seeking Students. Über Insta-Stories oder auf Facebook macht das Team beispielsweise auf die interaktiven Online-Foren "Psychisch fit Studieren" aufmerksam, die an der TH gemeinsam mit dem Verein Irrsinnig Menschlich veranstaltet werden. "Ein großer Vorteil ist, dass sie sehr gut zugänglich sind", so Petersson. "Egal, wo man sich befindet." Sie erlebt Teilnehmende in den Foren als "sehr offen und unverblümt im Chat". Internationale Studierende berichteten über Probleme, die sie sich in ihrem persönlichen Umfeld nicht anmerken lassen "dürfen". Es sei daher wichtig, für diese Angebote maximale Aufmerksamkeit zu schaffen: "Hört mal her, ihr seid nicht alleine, auch andere haben Probleme, das ist normal – hier könnt ihr euch Hilfe holen."

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